Ein Sommer voller Unsicherheiten

Bei Memel/Klaipėda am Meer
© Artūras Kokorevas

Zum 8. Mai 2022

Als ich mich um die Stadtschreiberstelle in Memel/Klaipėda bewarb, war die Welt noch in Ordnung. Also nicht wirklich. Denn irgendwo ist ja immer Krieg. Irgendwo herrscht immer Kriegstreiberei und irgendwo sterben Menschen, weil andere glauben, ihnen stehe es zu, über deren Leben oder Tod zu entscheiden. Euphemistisch nennen wir es inzwischen auch gerne „bewaffnete Konflikte“. Dieses „Irgendwo“ ist in Europa meistens auch weit weg. Jedenfalls so lange keine Geflüchteten an den Stränden in Spanien, Italien oder Griechenland anlanden, an denen wir unsere Sonnenliegen mit Handtüchern in Beschlag nehmen. Der Deutschen Freiheit wird nicht etwa am Hindukusch verteidigt. Nein, keineswegs erst seit dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan verteidigt Deutschland seine Freiheit an den Stränden von Mallorca, Sizilien und Lesbos.  

Dann kam der 22. Februar. Das Säbelrasseln Russlands war unüberhörbar geworden. Meine ukrainische Freundin Mila und ihre kleine Familie machten ein paar Tage Urlaub und wanderten im „Hegewald“, südlich von Schytomyr. Der Hegewald war während des Nationalsozialismus ein Siedlungsgebiet, das auf Befehl Heinrich Himmlers in der Umgebung des SS-Hauptquartiers 1942 eingerichtet wurde. Die Garnison umfasste ursprünglich etwa tausend SS-Soldaten. Nach der Vertreibung der ukrainischen Bevölkerung wurden bis März 1943 rund zehntausend Volksdeutsche, vorwiegend aus Wolhynien, hierher umgesiedelt. Wolhynien, davon wird an anderer Stelle zu berichten sein, gehörte einst zur Polnisch-Litauischen Union.  

Mila war also unterwegs auf den Spuren des Zweiten Weltkriegs und teilte mit ihren Freunden in den sozialen Medien Fotos aus der dortigen Natur und von den Überresten der Anlagen Hegewalds. Ich war verwirrt. War es nicht vielleicht Zeit, die Ukraine zu verlassen? Stand nicht ein Einmarsch Russlands unmittelbar bevor? Nein, versuchte Mila mich zu beruhigen. Keine Sorge. Ihnen ginge es gut und einen Krieg, den könne sich in der Ukraine niemand vorstellen.

Nur einen Tag später, am 23. Februar erhielt ich Nachricht, dass ich im Sommer die Stadtschreiberin in Memel/Klaipėda sein würde. Ich freute mich sehr und konnte mein Glück kaum fassen. Mein Konzept für diese Zeit war geprägt von Ideen, in denen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Litauens in Europa im Mittelpunkt standen. Memel/Klaipėda als kleine Schwester von Kaunas, der Europäischen Kulturhauptstadt 2022, bot diesbezüglich viele Anknüpfungspunkte. 

Am 24. Februar kam dann bekanntermaßen alles anders. Plötzlich war er also da. Der Krieg, den sich niemand vorstellen mochte. Dessen Vorboten, wie etwa die Annexion der Krim, wir so inständig ignoriert hatten. Fast mein gesamtes Berufsleben habe ich mich mit Krieg und Kriegsfolgen beschäftigt. Und entgegen aller Absichten wird nun auch mein Sommer als Stadtschreiberin von einem Krieg überschattet. Litauen hat derzeit bis mindestens 29. Juni 2022 einen temporären Ausnahmezustand ausgerufen. Die Balten sind nervös und haben wenig Verständnis für die Befindlichkeiten deutscher Medienstars, die in ihrem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz die völkerrechtswidrig angegriffene Ukraine de facto zur Kapitulation auffordern und meinen, „dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt“ nicht „allein den ursprünglichen Aggressor angehe“, sondern „auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.“

Memel/Klaipėda liegt keine sechzig Kilometer von der russischen Grenze zur Kaliningrad Oblast entfernt. In der vergangenen Woche führte Russland dort Manöver durch, in denen Nuklearangriffe simuliert wurden.

Es ist schwer, in diesen Tagen nicht an die Maikrise 1938 zu denken. Der von Hitler-Deutschland provozierte und eskalierte Konflikt, der kein anderes Ziel hatte, als die Existenz der Tschechoslowakei zu zerstören, Böhmen und Mähren „zurück ins Reich“ zu holen. Die Appeasement-Politik Frankreichs und Großbritanniens hatte damals die bekannten Folgen – auch für Litauen. Noch vor dem Überfall auf Polen zwang Hitler es unter Kriegsdrohung, das Memelland abzutreten. Der Blick auf die ostukrainischen Gebiete, nach Mariupol und Kherson, Odessa und Saporischschja, machen wenig Mut, dass es gelingen wird, Putin mit Diplomatie und Wirtschaftssanktionen dauerhaft einzuhegen.

Meiner Vorgängerin im Amt der Stadtschreiberin des Kulturforums, Ira Peter, danke ich für ihr unaufhörliches Engagement auch nach Beendigung ihrer Zeit in Odessa im vergangenen Jahr. Uns verbindet die Liebe zu unseren östlichen Nachbarn und ich hoffe, im Sinne der interkulturellen Verbindung über Grenzen hinweg, diesen Sommer ein neues Bewusstsein für Litauen, die Memeldeutschen und das Baltikum zu schaffen. 

Wie es für Mila und ihre Familie nach Kriegsbeginn in der Ukraine weiterging, kann man hier nachlesen.

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