Seit über einem Monat bin ich nun schon in Memel/Klaipėda. Die Zeit vergeht rasend schnell und ich kann gar nicht glauben, dass morgen schon Joninės, das traditionelle Mittsommerfest, gefeiert wird. Parallel dazu gibt es in Klaipėda das Lauksnos-Festival, mit dem die Stadt das immaterielle UNESCO-Kulturerbe ehrt und zu seinem Erhalt auffordert. Doch es ist keineswegs so, dass die letzten Wochen in der Stadt weniger los gewesen wäre. Im Gegenteil. Als Klaus Harer vom Kulturforum in der vergangenen Woche mit deutschen Journalisten auf einer Pressereise zu Gast war, ließ ich ihn wissen, dass ich noch dabei sei, an Artikeln für den Blog zu feilen. Es sei so viel passiert, dass ich mit dem Schreiben gar nicht hinterherkäme. Nicht schlimm, meinte er gelassen. „Schreiben Sie das doch einfach auch auf.“ Hier also erstmal ein kurzer Überblick über meine ersten Wochen „im Amt“.
Ich lebe in einer Bibliothek – und das ist wahrlich der Traum einer jeden Autorin! Die Bezirksbibliothek von Klaipėda hat zwei kleine Studio-Apartments in der zum Gebäudekomplex gehörenden Remise. Im Erdgeschoss wohnt meine Nachbarin Larysa, ihres Zeichens Bibliothekarin aus Mykolajiw in der Ukraine. Die litauischen Kolleginnen haben sie im April aufgenommen, ihr die Bleibe und eine halbe Stelle angeboten. Wie in ihrer Heimatstadt betreut Larysa hier die „amerikanische Ecke“ (American Corner), ein Geschenk der amerikanischen Botschaft, ausgestattet mit Periodika und Büchern, die beim Englisch lernen helfen und einem die USA näherbringen sollen.
Ich wohne unter dem Dach, auf das bei Schietwetter der Regen romantisch trommelt. Von meinem Schreibtisch aus sehe ich auf den grünen Innenhof der Bibliothek, der im Sommer ausgiebig von den Besuchern genutzt wird. Neben gemütlichen Sitzgelegenheiten zum Lesen und Verweilen gibt es Schaukeln, Klettergerüst und Spiele, um insbesondere Kindern Angebote neben dem Lesen zu machen. Gruppen können sich anmelden und dann ziehen die Bibliothekarinnen alle Register der Bespaßung. Bisheriger Höhepunkt sind Rhythmikstunden, die mit allem, was es an Krachmachinstrumenten gibt, großen Anklang finden.
Die nächsten Tage werde ich noch ein bisschen mehr von der Geschichte dieser Bibliothek erzählen. Nicht nur, dass sie an einem historischen Ort untergebracht ist. Sie beherbergt auch besondere Schätze und ein Team (rund hundert Mitarbeiter!), das viel dazu beiträgt, dass ich, wie viele andere, hier sehr gut arbeiten kann.
Auch von der oben erwähnten Journalistenreise möchte ich noch berichten. Wir besuchten das Flüssiggasterminal, für das Klaipėda heute in aller Welt bekannt ist (hier geht es zum Artikel einer mitgereisten Kollegin von ZEIT-Online). Wir fuhren zur Königin-Luise-Brücke mit Blick auf Tilsit/Sovetsk und ins Memelland. Wir sprachen mit dem Bürgermeister von Klaipėda, Vytautas Grubliauskas, einem ehemaligen Jazz-Trompeter, und dem deutschen Honorarkonsul Arūnas Baublys. Bei allen Gesprächen, die wir führten, wurde von litauischer Seite betont, dass, wenn Russland mit dem Krieg in der Ukraine Erfolg hat, sie die Nächsten auf Putins Liste sind. Die Sorge ist groß.
Im Simon-Dach-Haus traf ich an einem Nachmittag zwanzig Berufsschüler aus dem sächsischen Wurzen und ihrer litauischen Partnerschule in Joniškis, die an einem Erasmus+-Programm der Europäischen Kommission „Jugend in Aktion“ teilnehmen. Gemeinsam mit den betreuenden Lehrerinnen arbeiten die Schüler zum Thema Flucht und wollten von mir mehr über die Wolfskinder erfahren. Dabei ging es auch um Parallelen zu den aktuellen Flüchtlingsbewegungen in Europa und den grundsätzlichen Umgang mit Geflüchteten.
Schließlich kam die bekannte Autorin Ulla Lachauer anlässlich der Neuübersetzung ihres Buches „Paradiesstraße. Lebenserinnerungen der ostpreußischen Bäuerin Lena Grigoleit“ zu zwei Lesungen nach Litauen. Gemeinsam mit dem Enkel der Protagonistin, Mindaugas Karklelis, besuchte sie unter anderem Klaipėda, wo sie eine große Fangemeinde hat.
Daneben fanden unzählige Hintergrundgespräche, Interviews und kleinere Veranstaltungen statt, bei denen ich immer tiefer in die Stadt und ihre Geschichte eintauchen konnte. Ich bin angekommen. Wenn sich abends das Tor zum Innenhof der Bibliothek schließt, sind Larysa und ich alleine. Dann nehmen wir uns ein Glas Wein mit hinaus, genießen die kleine Oase mitten in der Stadt und erzählen einander von unserem Tag. Da sitzen wir dann unter der alten Eiche – eine ukrainische Bibliothekarin und eine deutsche Autorin im litauischen Paradies.
Ulla Lachauer war zu vier Lesungen in Litauen (Smalininkai, Bitėnai, Vilnius, Klaipėda).
Die Familie von Roland Begenat ist mir sehr gut bekannt. Meine Email Adresse ist :h.k.oey@gmx.de, ich freue mich auf eine Rückmeldung von Roland Begenat.