Ein besonderer Tag auf Gut Stragna

Bis 1944 war Gut Stragna (im Hintergrund) ihr Zuhause: Gert Baltzer mit Schwester Karin Backes.
© Sonya Winterberg

Liebe und Lassenmüssen des Geliebtesten, und es halten – immer dasselbe…“ schrieb Käthe Kollwitz im Januar 1915 in einem Brief an ihren Sohn Hans.
An diesen Satz muss ich denken, als ich von einem besonderen Ereignis auf einem ehemaligen Gut bei Prökuls, etwa eine halbe Autostunde südlich von Memel/Klaipėda gelegen, zurückkehre.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen litauische Landarbeiter und russische Umsiedler in die von den vertriebenen Deutschen zurückgelassenen Gutshäuser. Auch das bei Prökuls gelegene Gut Stragna war enteignet worden. Ende der Fünfziger Jahre wurden hier einer litauischen Familie, die aus der Verbannung in Sibirien zurückkehrt war, zwei Zimmer zugewiesen, dazu ein Fleckchen Erde, vielleicht hundert Quadratmeter, wo sie Kartoffeln anbauen sollten. Mutter Zofija war eine gläubige Frau. Kopfschüttelnd begutachtete sie das Stückchen Land, das sie für den Eigenbedarf bekommen hatte. Sie sah drei Erdhügel, zwei größere, einen etwas kleineren; offensichtlich Gräber, obwohl die Grabsteine bereits gestohlen waren. Schnell wurde ihr klar, dass sie an diesem Ort keine Kartoffeln anbauen würde. Stattdessen begann sie, die Gräber zu pflegen, pflanzte Blumen an, zupfte das Unkraut – jahrzehntelang und ohne die leiseste Ahnung, wer hier seine letzte Ruhe gefunden hatte. „Das hier ist heilige Erde“, meinte sie schlicht, wenn ihr Tun den Nachbarn ein wenig verrückt vorkam.

Blick auf die umliegenden Wiesen und Felder
© Sonya Winterberg

Bis 1987 wusste sie nichts über die Geschichte des Gutes. Doch eines Tages stand ein Deutscher vor ihrer Tür. Gert Baltzer, ein freundlicher älterer Herr, stellte sich vor und erzählte, dass er hier als kleiner Junge gelebt habe… Sehnsucht und Verbundenheit mit der Heimat waren über all die Jahre bestehen geblieben. Als der Eiserne Vorhang durchlässiger wurde, fuhr Gert Baltzer erstmals wieder ins Memelland. Nichts war mehr wie einst, aber das Gutshaus seiner Kindheit existierte noch – ebenso die Gräber seines Vaters und seiner Großeltern. Einzig die Grabsteine fehlten.

Die Geschichte von Gut Stragna, war über die Jahrhunderte wechselvoll. Schriftliche Zeugnisse des Namens Stragna tauchten erstmals 1663 auf. 1785 wurde es als ein sogenanntes Kölmisches Gut geführt. Die Kölmer (auch kulmische Bauern genannt) waren zu jener Zeit eine angesehene Schicht, die über den einfachen Bauern stand. 1916 wurde Stragna ein eingetragener Gutsbezirk. Zu diesem Zeitpunkt war der Eigentümer ein gewisser Fritz Sperber, der es 1918 an die Familie von Franz Rudat (1877-1928) verkaufte, die aus dem nahegelegenen Saugen stammte. Er und seine Frau Martha (1884-1938) bewirtschafteten das Gut lange Jahre, bevor es nach dem Tod von Martha 1938 an ihre Tochter Elisabeth, genannt Lisa (geb. 1909), und ihren Mann, Kurt Baltzer (geb. 1902), überging. Franz und später Martha wurden am Rande des Gutshofes unter einer Esche begraben. Lisa und Kurt führten das blühende Gut weiter. Ihre vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, erlebten hier glückliche Jahre – bis 1941 Vater Kurt plötzlich an den Spätfolgen einer Gesichtsverletzung aus Studentenzeiten starb und neben seinen Schwiegereltern beerdigt wurde. 1944 musste Lisa schließlich mit ihren Kindern fliehen. Sie kamen nach Döbeln in Sachsen und später über Umwege nach Neuhäusel im Westerwald.

Gutshaus Stragna ca. 1943.
© Privatbesitz

Ab 1989 folgten nun häufige Fahrten nach Litauen, in manchen Jahren bis zu elf, erinnert sich Gert Baltzer. Manchmal reiste er mit seinen Geschwistern und in den Anfangsjahren sogar noch mit Mutter Lisa Baltzer, die da schon über achtzig war. Als sie 1993 starb, stand in ihrer Traueranzeige: „Es war ihr vergönnt, ihre verlorene, aber nie vergessene Heimat im hohen Alter wiederholt zu besuchen.“ Die Worte lassen den Schmerz, aber auch ein Gefühl der Dankbarkeit für diesen Umstand erahnen. Als Zofija die Grabpflege aus Altersgründen nicht mehr leisten konnte, übernahm ihre Tochter Aldona Cirtautienė die Familientradition, für die sie inzwischen natürlich bezahlt wird.

Am 5. August 2022 auf dem kleinen Familienfriedhof des ehemaligen Gutes Stragna.
© Sonya Winterberg

Mit der Unabhängigkeit Litauens beschäftigte die Vertriebenenverbände allerdings auch die Frage nach Restitutionen. Gert Baltzer erzählt: „Als Parlamentspräsident Landsbergis versprach, dass die Besitzverhältnisse von 1940 wiederhergestellt würden, horchte ich auf.“ Das Prozedere erwies sich zwar komplizierter als gedacht, aber Gert Baltzer nahm Vytautas Landsbergis beim Wort. Nicht zuletzt mit Unterstützung des Bundestagsabgeordneten Dr. Wolfgang von Stetten gelang es ihm, die litauische Staatsangehörigkeit zu bekommen, die als Voraussetzung galt, Ansprüche anmelden zu können. Nach der erfolgreichen Rückübertragung der Ländereien seiner Vorfahren, verkaufte Gert Baltzer diese. Einzig die hundert Quadratmeter Familienfriedhof sind heute noch in seinem Besitz.

Baltzer ist inzwischen 91 Jahre alt. An einem heißen Sommertag Anfang August kamen er, seine Schwester Karin Backes und Freunde der Familie zu einem kleinen Segnungsgottesdienst auf Stagna zusammen. Pfarrer Mindaugas Žilinskis weihte einen neuen Grabstein für die drei Gräber, die Aldona Cirtautienė liebevoll bepflanzt hat.

Pfarrer Mindaugas Žilinskis
© Sonya Winterberg

In einer kurzen Andacht erinnerte der Pfarrer an die historischen Anknüpfungspunkte der Baltzerschen Familiengeschichte. 1944 habe die Mutter ihre Kinder auf die Flucht mitgenommen, unter Umständen, die heute kaum noch vorstellbar sind. Trotz der Vertreibung habe sich die Familie dazu entschieden, der alten Heimat treu zu bleiben, Verbindungen und Freundschaften zu pflegen. Pfarrer Žilinskis segnete schließlich den neuen Grabstein und endete mit den Worten: „Diese Ihre Angehörigen sind hier geboren. Sie haben hier gelebt, gelacht, geweint, sind hier gestorben und begraben. Möge der Grabstein künftige Generationen daran erinnern, was auf diesem Land geschah.“

Der kleine Familienfriedhof am ehemaligen Gutshof in Stragna dürfte im Memelland ebenso einzigartig sein wie die Menschlichkeit, die hier eine litauische Familie seit Jahrzehnten mit den ursprünglichen Besitzern verbindet.

Pfarrer Žilinskis, Karin Backes, Aldona Cirtautienė, Gert Baltzer (v.li.)
© Sonya Winterberg


Die große Esche auf dem winzigen Friedhof hat diese wechselvolle Geschichte symbolhaft überdauert. Über hundert Jahre lang wuchs sie beharrlich, wurde immer mächtiger und imposanter. Schicksalsfälle konnten ihr nichts anhaben. Seither schützt sie die Grabstätten, so gut sie kann, spendet Schatten und hält die Stürme fern.

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