Der 11. November wird in vielen Ländern Europas (und dem Commonwealth) als Gedenktag des Waffenstillstands von 1918 (Armistice Day) begangen. Es ist ein Tag der Besinnung und inneren Einkehr. In besonderer Erinnerung ist mir dieser Tag im Jahr 1989 geblieben. Zwei Tage zuvor war die Berliner Mauer gefallen. Dieses Aufeinanderprallen von Geschichte – das Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs, mit Deutschland als Verlierer, und quasi im selben Moment das Ende einer Hauptfolge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs zu erleben, war für mich als Europäerin ungeheuer bewegend. Der Traum von einem geeinten Europa schien in greifbare Nähe gerückt.

© Sonya Winterberg
Seit der Unabhängigkeit Litauens erinnert auch der deutsche Botschafter traditionell gemeinsam mit den Botschaftern der einstigen Kriegsgegner Frankreich und Großbritannien an den 11. November 1918. So auch in diesem Jahr, in dem alles anders ist. Der Krieg in der Ukraine hat uns auf erschreckende Weise gezeigt, wie anfällig die freiheitliche Friedensordnung ist, die wir für geradezu unumstößlich hielten.
Im vergangenen Jahr fragte Botschafter Matthias Sonn in seiner Gedenkrede, ob wir aus der Geschichte gelernt hätten. Er beantwortete diese Frage, wie es wahrscheinlich viele getan hätten: „Ja, aber erst nach den noch weit schlimmeren Verheerungen des zweiten großen europäischen Feuersturms, nach 1945. Oft ist die Rede davon, der Erste Weltkrieg sei in Wahrheit ein dreißigjähriger Krieg gewesen, von 1914-1945.“
Ich möchte darauf mit Hegel antworten: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“
Doch der Botschafter wäre ein schlechter Diplomat, wenn er sein „Ja“ nicht noch inhaltlich untermauert hätte: „Was haben wir gelernt? Der Weg zum Abgrund beginnt mit einem Nationalismus, der das eigene Land, das eigene Volk ethnisch und exklusiv definiert, und über andere stellt. Der Menschen anderer Sprachen, Kulturen, Hautfarben, Religionen und politischer Überzeugungen nicht als Gleiche erkennt, mit im Kern gleichen menschlichen Bedürfnissen und Begabungen, sondern sie als grundlegend Andere definiert, sie ausgrenzt. Ihre Entrechtung, ihre Bekämpfung als Feinde, ist dann nur noch einen logischen Schritt entfernt.“
Obwohl ich auch schon vor einem Jahr gesagt hätte, dass Hegels Urteil trotzdem Bestand hat, wäre ich wohl nicht auf die Idee gekommen, dass wir zu diesem Zeitpunkt nur noch diesen einen „logischen Schritt“ von einem neuerlichen Krieg in Europa entfernt waren.

In diesen Tagen feiert mein ukrainischer Freund und Kollege Korney Hrytsiuk die Premiere seines berührenden Filmes „Eurodonbass“. In Deutschland ist er damit u.a. am 11. und 12. November beim Filmfestival in Cottbus zu Gast. Was diesen Film so besonders macht, ist Korneys Blick auf seine Heimat, den Donbas. Er entführt die Zuschauer an Orte wie Ostheim, Liebenthal, New York, Blumenfeld, Bunge und Marienthal – allesamt im Donbas gelegen. Sein Porträt des Ostens der Ukraine ist im besten Sinne des Wortes eine Feldforschung, die deutlich macht, weshalb der Ukrainekonflikt natürlich auch ein europäischer Krieg ist. Korney ist ein leidenschaftlicher junger Filmemacher, den ich bei einem Workshop in Odessa 2016 zum ersten Mal traf. Seine Offenheit, seine klugen Fragen, aber auch sein Witz sind mir in besonderer Erinnerung. Ich habe ihn und viele andere ukrainische Filmemacher*innen vor Augen, wenn ich daran denke, was in der Ukraine an Lebensleistung, künstlerischem Ausdruck und bescheidenem Wohlstand seit Februar zerstört wurde.

© Tatiana Krukovska
Korney macht ungeachtet alles Schweren und Unerträglichen in seiner Heimat weiter wichtige Filme, wie jetzt „Eurodonbass“. Über sein neuestes Werk sagt er: „Wir zeigen einzigartige architektonische Gebäudeensembles im Donbas, wie das ‚belgische Viertel‘ von Lysychansk, das 2018 mit dem belgischen Preis für das beste architektonische Erbe Belgiens im Ausland ausgezeichnet wurde. Wir zeigen interessante französische Gebäude in Druschkiwka und Deutsches im Dorf New York. Nach der Revolution von 1917 und der Machtübernahme durch die Sowjets wurden die Fabriken den europäischen und nordamerikanischen Siedlern weggenommen und verstaatlicht, wodurch dort die Erinnerung an die europäische Geschichte quasi zerstört wurde. Seit Kriegsbeginn setzen die russischen Truppen ihre Bemühungen fort, das dortige europäische Erbe zu zerstören und damit zu vollenden, was ihre Vorfahren während der Sowjetunion nicht geschafft haben.“
Russland ist 2022 dem gleichen Trugschluss aufgesessen wie einst die deutschen Militärs vor Beginn des Ersten Weltkriegs: Auch damals dachte man, der Krieg sei ein kurzer Waffengang und die geplante rasche Einnahme der französischen Hauptstadt gleichbedeutend mit dem Sieg. Ein doppelter Irrtum, wie wir heute wissen, denn auch wenn die deutsche Armee nicht bereits an der Marne gestoppt worden wäre, ging man in Berlin doch fälschlicherweise davon aus, der Rest der Welt würde tatenlos zusehen und es bei diplomatischen Protesten belassen. Vermutlich hatten die Kriegsplaner damals dafür ihre realen Anhaltspunkte aus der Vergangenheit, so wie es erst jüngst der Westen bei halbherzigen Protesten beließ, als Russland 2014 völkerrechtswidrig die Krim besetzte.
Der Erste Weltkrieg war der erste industrialisierte Krieg der Menschheitsgeschichte, der am Ende 17 Millionen Tote forderte. Noch schweigen die Waffen in der Ukraine nicht. Der Toten dieses neuerlichen, unfassbar sinnlosen Krieges sollten wir jedoch schon heute gedenken.