Hundstage

Gedenktafel für Vydūnas in Tilsit/Sovetsk
Quelle: Wikipedia (CC)

Es ist heiß in Litauen. Unerträglich heiß. Wer nicht vor die Tür muss, bleibt zuhause. Auch die Bibliothek ist verwaist. Seit dem Wochenende haben die Sorgen der Litauer erheblich zugenommen. Wird Russland ihr Land angreifen, um sich freien Zugang zur Kaliningrad Oblast dauerhaft zu sichern? Wie real sind die russischen Drohgebärden, mit Atomwaffen London zu bombardieren und die Balten die Kosten für die Blockade der Oblast spüren zu lassen? Gestern fragte mich Rasa, meine Ansprechpartnerin in der Bibliothek, ob ich glaube, dass es tatsächlich zu einem Angriff kommen wird. Dabei weiß ich genauso viel oder wenig wie sie. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, insbesondere wenn sich Putin mehr und mehr in die Ecke gedrängt fühlt. Er ist unberechenbar geworden und scheut offensichtlich auch die Konfrontation mit der NATO nicht mehr. Andererseits hat er gerade seine Teilnahme am G20 Gipfel angekündigt, die er wohl vergessen kann, wenn er zuvor einen Angriff auf Litauen startet.

Als Vorbote gab es gestern allerdings eine schwere Hackerattacke des russischen „Killnet“ auf die digitale Infrastruktur Litauens. Betroffen waren neben Ministerien, der Steuerbehörde und des Stromversorgers Litgrid auch Bahn und Flughäfen. Zwar gehen die Angriffe heute weiter, aber das Nationale Zentrum für Cybersicherheit gibt an, die Lage unter Kontrolle zu haben.

Auf der Königin-Luise-Brücke am 15. Juni 2022 mit Blick auf Tilsit/Sovetsk. An der Häuserwand rechts im Bild prangt provokativ das russische Propaganda-Z.
© Sonya Winterberg

In Tilsit/Sovetsk wiederum wurde ebenfalls gestern, nach Angaben des osteuropäischen Nachrichtennetzwerks NEXTA, eine Gedenktafel des in Litauen sehr verehrten Dichters und Philosophen Vydūnas von einer Hauswand entfernt. An der ehemaligen Hohen Straße, heute die Fußgängerzone Uliza Pobedy („Straße des Sieges“) Hausnummer 17, seinem Zuhause von 1933 bis 1944, ist er jedenfalls nicht mehr erwünscht. Geboren am 22. März 1868 in Jonaten im Kreis Heydekrug als Wilhelm Storost, wuchs er in einer alt eingesessenen preußisch-litauischen Familie auf, die seinen Lebensweg und seine tief empfundene Identität, aber auch sein Schreiben prägen sollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte Vydūnas in Detmold, wo er 1953 starb. Im Zuge der Unabhängigkeit Litauens wurden seine sterblichen Überreste zurück nach Litauen gebracht, wie er es sich gewünscht hatte. Seine letzte Ruhestätte fand er in Bitenen/Bitėnai nahe dem Rombinus/Rambynas-Hügel, der seit Urzeiten einen wichtigen Platz in der litauischen Mythologie einnimmt und wo bis heute traditionell Mittsommer gefeiert wird.

Die Entfernung der Gedenkplatte zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht nur deshalb von großer symbolischer Bedeutung, weil der Verwaltungschef von Sovetsk, Evgeny Makarov, damit die anti-litauischen Ressentiments in der Oblast befeuert, sondern weil Vydūnas für wichtige litauische Tugenden steht: Sein Pseudonym hatte er mit Bedacht gewählt. Es sollte für das Gegenteil des litauischen „pavydūnas“ stehen, eines Neiders oder Missgünstlings. Vydūnas  hingegen meint einen Menschen, der den anderen ihr Glück gönnt.

Vydūnas, 1930
Quelle: Wikipedia (CC)

Seine Verdienste um die Wiederbelebung litauischer Traditionen, insbesondere der Volkslieder und des bäuerlichen Brauchtums, finden sich an vielen Orten Litauens wider und reichen bis in die zeitgenössische Chormusik des Landes. Vydūnas war im besten Sinne bikulturell und den Nationalsozialisten mit seinen Bemühungen um Ausgleich der Interessen zwischen litauischer und deutscher Nationalbewegung ein Dorn im Auge. 1938 wurde er kurzzeitig inhaftiert, aber nach anhaltenden Protesten wieder freigelassen.

Daran darf also seit heute in Sovetsk nicht mehr erinnert werden. An der Fassade klafft nun ein Loch, das erst der Beginn eines neuen Kulturkampfes sein dürfte. Großmanntum und Nationalismus treten an die Stelle von Völkerverständigung und Moderation. Es sind dunkle Tage im Baltikum.

2 Gedanken zu „Hundstage“

  1. interessant, noch nie von diesem autor gehört. Wie auch? Und wie erschreckend all diese zeichen der zensur… ich sende gute gedanken!

    1. Herzlichen Dank! Die Tatsache, dass er in Deutschland wenig bekannt ist, teilt er leider mit jeder Menge Vertreter der „kleineren Literaturen“, wozu die Memelländer auch gehören.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

RSS
Folgen Sie dem Blog per E-Mail
Sonya Winterberg auf Instagram